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Mens sana in corpore sano – Gesunder Körper, gesunder Geist

Psychische Krankheiten sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Sie erschweren den Alltag, belasten die Angehörigen und führen nicht selten zu Suizid. Bewegungstherapie stellt neben Medikamenten und Psychotherapie zwar eine wirksame Behandlungsoption dar, findet jedoch noch zu wenig Anerkennung. Wissenschaftler fordern deshalb ein Umdenken, nicht nur im Hinblick auf den Einsatz von Bewegung als Therapieform, sondern vor allem auch in Bezug auf den wertvollen präventiven Nutzen von Bewegung.

Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) aus dem Jahr 2017 fühlen sich rund 15 Prozent der Schweizer Bevölkerung mittel bis stark psychisch belastet. Der Anteil an Personen mit einer diagnostizierten Depression liegt bei über 5 Prozent. Das BAG berichtet: «Pro Jahr sterben in der Schweiz gut 1000 Personen durch Suizid. Jeder dritte Todesfall bei Männern zwischen 20 und 29 Jahren ist ein Selbstmord.»

Komplexer Prozess, kein Zustand

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt die psychische Gesundheit als vielschichtigen Prozess, der aus dem Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren entsteht. Eine Person fühlt sich psychisch gesund, wenn sie ihre intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten ausschöpfen, die alltäglichen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und in der Gemeinschaft einen Beitrag leisten kann. Eine psychisch gesunde Person, definiert die WHO weiter, verfügt über ein stabiles Selbstwertgefühl und eine gefestigte Identität bezüglich ihrer verschiedenen Rollen in der Gesellschaft. Sie hat zudem das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Handlungskontrolle, sie empfindet sich in der Regel optimistisch, zuversichtlich und ausgeglichen.

Entscheidend sei das Zusammenspiel von Belastungen und Ressourcen. Besonders bei kritischen Lebensereignissen wie dem Tod einer nahestehenden Person oder bei chronisch belastenden Lebensumständen wie Armut oder Stress ist dieses Zusammenspiel entscheidend. Liest man diese Beschreibung, kann man sich fragen: Was hat das mit dem Körper und mit Bewegung zu tun?

Evolutionsorientierte Programme und emotionale Netzwerke

Der Körper, gemeint ist die rein physische Ebene, kommt deshalb ins Spiel, weil er gar nicht anders kann, als auf psychische Zustände zu reagieren. Wir alle kennen das: Wenn wir in einer psychisch belastenden Situation stecken, fängt unser Herz an zu rasen, der Magen zieht sich zusammen, die Muskeln werden hart, eventuell zittern wir. Diesem Phänomen liegen sogenannte evolutionsorientierte Programme zugrunde. Um dem Säbelzahntiger zu entkommen, ist die Aktivierung gewisser Körperfunktionen zwingend notwendig. Die klassischen «fight-or-flight»-Reaktionen, welche wir immer noch in uns tragen, sind schon länger bekannt. Neu jedoch ist die Feststellung, dass unsere Emotionen in einer Art Netzwerk organisiert sind. Die Embodiment-Expertin und BGB-Dozentin Dr. Petra Mommert-Jauch erzählt: «Zwischen motorischen und emotionalen Prozessen existieren nach den bisherigen Erkenntnissen enge Wechselwirkungen. Das motorische System beeinflusst Gefühle, emotionales Gedächtnis und Verhalten. So gehen moderne psychologische Modelle davon aus, dass Emotionen in Netzwerken organisiert sind. In diesen Netzwerken sind verbale Informationen, die mit einer positiven und einer negativen Stimmung verknüpft sind, gleichermassen abgespeichert wie Bilder und motorische Prozesse. Wenn man eine dieser Verbindungen in diesen Netzwerken, nennen wir sie Knoten, aktiviert, etwa durch eine bestimmte Sitzhaltung, dann breitet sich diese Aktivierung im gesamten Netzwerk aus.» Das heisst also, dass auch die andere Richtung möglich ist. Die Psyche führt nicht nur zu körperlichen Reaktionen, sondern reagiert umgekehrt auch auf den Körper.

Embodiment – Körper, Emotion, Sprache und Bilder

Der Begriff Embodiment umschreibt genau diese Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche. Einerseits werden psychische Zustände in Form von körperlichen Ausdrucksformen wie Gestik, Mimik, Körperhaltung sichtbar, andererseits beeinflussen Körperzustände, im Speziellen Körperhaltungen, unser Denken und Fühlen. «Lassen Sie uns ein Experiment machen», schlug die Gesundheitswissenschaftlerin während des Interviews vor: «Lehnen Sie sich nach hinten, strecken Sie Ihre Arme in Siegerposition in die Luft, lächeln Sie und sagen Sie gleichzeitig ‹Ich bin soooo traurig›». Es funktionierte nicht. Warum? Mommert-Jauch erklärt: «In diesem Beispiel passt die Bewegung nicht zum verbalisierten Bild. Die Körperhaltung hatte eine stärkere Wirkung als das gesprochene Wort. So können wir also versuchen, über bestimmte aktivierte Bewegungsmuster ein Netzwerk zu bespielen, welches uns gute Stimmung, positive Bilder und Assoziationen vermittelt. Je häufiger wir auf diese positiven Netzwerke zurückgreifen, desto eher wird es uns gelingen psychischen Druck zu relativieren oder sogar zu kompensieren.»

Schlechte Haltung, schlechte Stimmung?

Eine Metastudie der internationalen Wissenschaftsvereinigung konnte zeigen, dass die Ansteuerung unserer Flektoren, unserer Beugemuskeln, in einem starken emotionalen Netzwerk mit Aggression, Angst, Flucht und Trauer verknüpft sind. Sitzen wir also zum Beispiel im Zug und starren ununterbrochen in gebeugter Haltung in unser Smartphone, dann stimulieren wir eher negative Gedanken und Emotionen. Machen wir uns unsere Depressionen vielleicht sogar selbst?

Bewegung beugt Depressionen vor

Wissenschaftler des Swiss Medical Forum haben sich der Frage, wie wir das Potenzial des körperlichen Trainings besser nutzen können, in einem Beitrag angenommen. In ihrem Bericht zeigen sie auf, dass Menschen mit passivem Lebensstil ein erhöhtes Risiko haben, psychisch zu erkranken. Besonders bei Depressionen sei der präventive Effekt körperlicher Aktivität stark. Wer die Empfehlungen der WHO für ein gesundes Aktivitätslevel erfüllt (150 Minuten moderate Aktivität pro Woche), hat im Vergleich zu Personen mit tiefem Aktivitätslevel ein um 22 Prozent reduziertes Risiko, eine Depression zu entwickeln. Das Risiko, eine Angststörung zu bekommen, sinkt um 28 Prozent. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass körperliches Training bei Menschen mit Symptomen einen wichtigen antidepressiven Effekt hat. Weshalb wird diese Tatsache nicht besser genutzt? Schätzungen zufolge wird in der Schweiz nur ein Drittel der Patientinnen und Patienten beim Arztbesuch dazu ermuntert, sich zu bewegen. Wie die Studien belegen, wäre es sehr sinnvoll, bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen verstärkt auf körperliche Aktivität zu fokussieren. Die Autoren des Berichts «Bewegung gegen Depression und Angst» des Swiss Medical Forum schlagen sogar vor, Patientinnen und Patienten, die das von der WHO empfohlene Aktivitätslevel von 150 Minuten nicht erreichen, an eine Fachperson, zum Beispiel einen Sporttherapeuten oder eine Physiotherapeutin, zu überweisen.

Eine Motivationsfrage

Vielleicht liegt die fehlende Anwendung des Wissens nicht nur an der mangelhaften Kommunikation seitens der Ärzte. Denn wie bringt man einen depressiven, antriebslosen Menschen dazu, sich zu bewegen, wenn er sich am liebsten im abgedunkelten Zimmer verkriechen würde? Dieses Problem stellt in der Praxis eine grosse Hürde dar. «Überwunden werden kann diese mit dem Einsatz von Embodiment», meint Petra Mommert-Jauch. Ein Schwerpunkt bei der Umsetzung des Trainings liege dabei im Gehen. Über bestimmte motorische Bewegungsmuster beim Gehen können positiv geprägte Netzwerke aufgebaut werden. «Beim Gehen in einer aufrechten Position ist die Wahrnehmung anders, als wenn jemand mit gebeugter Haltung spazieren geht. Personen mit aufrechter Haltung nahmen nachweislich positivere Signale auf als diejenigen mit gebeugter Haltung. Dabei sage ich einem Patienten natürlich nicht ‹Geh doch mal aufrechter!› Das wird einem depressiven Patienten nicht gelingen. Ich gebe ihm bestimmte Bewegungsimpulse, die ihn automatisch aufrichten. Zum Bespiel kommt es durch einen guten Fussabdruck am Boden zur Innervierung der Streckmuskulatur. Diese führt dazu, dass der Patient offener ist für positive Signale. Das ist gut belegt», so die Fachfrau.

Embodiment – integratives Know-how für alle

Auch Marianne Gerber, diplomierte Sprach- und Bewegungspädagogin und ebenfalls BGB-Dozentin, lässt Körpersprache und Embodiment schon länger in ihre Stunden einfliessen. Für sie ist klar: Bewegung ist eines der Heilmittel gegen psychische Erkrankungen, und zwar ein sehr wichtiges. Sie erwähnt den Satz von Leonardo Da Vinci, der die Wechselwirkung von Körper und Seele bereits im 16. Jahrhundert treffend beschrieb: «Deine Seele wohnt in Deinem Körper. Wenn Du einen Hinweis auf den Zustand einer Menschenseele herausfinden willst, dann beobachte, wie er sich um den Ort kümmert, an dem sie wohnt.» Wir sollen sehr gut auf unseren Körper achten, damit sich die Seele darin wohlfühlt.

Das Wissen, um die Zusammenhänge von Psyche und Bewegung wird immer fundierter und ist gut belegt. Experten sind der Meinung, es sollte unbedingt in die Welt hinausgetragen werden und vermehrt zur Anwendung kommen. So soll Bewegung als anerkannte Therapieoption für psychisch erkrankte Menschen etabliert werden. Und das Know-how könnte in den verschiedensten Bewegungsformaten – von der Gymnastik über Yoga bis hin zum Personaltraining – eingebracht werden. Denn die Psyche wirkt nicht nur auf unseren Körper, sondern unser Körper hat auch Einfluss auf unsere Psyche.

Quelle: Bewegung und Gesundheit 02/21, Verbandszeitschrift BGB Schweiz
Autorin: Mariette Inderbitzin

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